Interview mit Prof. Sascha Friesike zur Digitalisierung
Was sind Ihrer Meinung nach die größten Irrtümer in Bezug auf den Nutzen durch Digitalisierung in Unternehmen?
Friesike: Das ist mal eine Einstiegsfrage … puh … also es gibt eine Reihe von Annahmen, die überall wiederholt werden und bei denen ich mich immer wieder frage, wie man dazu kommt, etwas aus einem anderen Kontext ungefragt zu übernehmen. Also der größte Irrtum wäre damit anzunehmen, dass man schon weiß, wie die Digitalisierung ausgehen wird und daher »einfach nur« machen muss, was auch woanders funktioniert hat. Pragmatisches Beispiel ist die Möglichkeit zur Individualisierung, die Online-Technologien bieten. Ich kann Menschen also die Option einräumen, sich maßgeschneiderte Lösungen zusammenzustellen. Für einige Gebiete ist das sicher auch eine sinnvolle Sache, aber anderswo fragt man sich schon, ob der Mensch so viel Individualisierung überhaupt will. In den letzten Jahren gab es eine regelrechte Flut an Online-Matratzenhändlern. Mit viel Marketingaufwand haben die ihre Kunden davon überzeugt, dass man keine individuelle Matratze braucht, sondern, dass ihre eine die ideale Lösung für praktisch jeden ist. Viele Menschen müssen derart viele Entscheidungen in ihrem Leben treffen, dass sie sich nahezu nach jemandem sehnen, der ihnen sagt: »Hier ist die ideale Lösung«. Und so verbringen nun etliche Menschen ein Drittel ihres Lebens auf einer Matratze, die sie nie getestet haben und zu der es keine Optionen gab.
Was wird im Gegensatz dazu am meisten unterschätzt?
Friesike: Ich sehe auf Events zur Digitalisierung immer wieder eine große Angst vor dem Unbekannten, beziehungsweise noch nicht Bekannten. Vor ein paar Jahren habe ich mal von einem Daimler-Manager gehört, dass ihre größte Gefahr das Google-Auto ist. Heute verkauft Tesla in allen entwickelten Ländern außer Deutschland mehr Luxusautos als Daimler und BMW zusammen. Google verkauft nach wie vor null Autos. Tesla hat der Daimler-Manager aber nicht als Gefahr wahrgenommen, weil er verstanden hat, was die tun, weil er die Autos sehen konnte und seine eigenen Autos subjektiv für besser hielt. Statt zu sehen, dass ein Konkurrent Schritt für Schritt Kunden abwirbt, wird die Gefahr im Unbekannten gesehen. Ganz generell unterschätzen Menschen, wenn es um die Digitalisierung geht, Prozesse und überschätzen Events. Es wird immer nach dem einen Event Ausschau gehalten, durch den sich die Spielregel ändern. Dabei übersieht man, dass Digitalisierung ein langsamer stetiger Prozess ist.
Welchen Rat geben Sie Unternehmen, um von der Digitalisierung am besten zu profitieren?
Friesike: Wie gesagt, ich glaube nicht, dass jemand morgens aufwacht und die Spielregeln haben sich geändert. Der ganze Prozess der Digitalisierung läuft langsamer als man meinen würde. Aber er läuft unaufhörlich. Daher geht es weniger darum, sich von heute auf morgen neu zu präsentieren, als sich langsam aber schrittweise zu wandeln. Ich sehe bei vielen Unternehmen Hauruck-Aktionen, die sowohl Kunden als auch Mitarbeiter überfordern. Auf der anderen Seite sehe ich zu wenig Raum für etwas, das man als »organische Digitalisierung« beschreiben könnte. In vielen Unternehmen, in die ich Einblick habe, ist das Privatleben der Mitarbeiter mehr digitalisiert als der Arbeitsalltag. Ich sage mal etwas überspitzt, wenn die Mitarbeiter ihre privaten Reisen per App managen und für Dienstreisen ein Formular auf Papier ausfüllen müssen, dann läuft da was schief.
Digitale Zukunftsthemen
Welche Innovationen und Entwicklungen werden in den nächsten Jahren die meisten Fortschritte für die Wirtschaft bringen?
Friesike: Ich weiß gar nicht, ob neue Technologien im Zuge der Digitalisierung den Fortschritt bringen, oder ob es mehr darum geht, die Technologien, die wir schon haben, besser einzusetzen bzw. zu kombinieren. Also kommen wir mal zu dem Beispiel der Online-Matratzen zurück, das ist inzwischen ein Milliardenmarkt. Technisch ist das E-Commerce und Affiliate-Marketing, ich sehe da keine »neue« Technologie, trotzdem hat sich da ein neuer Markt gebildet. Wenn wir uns die ganzen zweiseitigen Märkte angucken, die in den letzten Jahren entstanden sind und heute unsere Debatten über Geschäftsmodelle der Zukunft beherrschen – Alibaba, Facebook, Airbnb, Uber – dann sind das jeweils sehr clevere Ideen, bestehende Technologien neu zu kombinieren. Das Smartphone ist jetzt zehn Jahre alt und war die letzte wirklich gravierend neue Technologie, die mir in den Sinn kommen würde. Aktuell gibt es sehr viele Debatten über die technischen Möglichkeiten, die die Blockchain-Technologie mitbringt. Ich wage da aktuell keine Prognose, aber bin sehr gespannt, ob die Ideen, die dort gerade entstehen irgendwann auf eine breite Anwenderschaft stoßen werden, oder ob das ein Nerd-Thema bleibt. Also die klassische Frage, ob die Technologie den Sprung in den Massenmarkt schafft. Ich höre von meinen Kollegen allerdings auch schon Unkenrufe, die sagen, dass Blockchain das nächste »Liquid Democracy« werden wird.
Blockchain ist ein neues Schlagwort, das gar nicht so leicht zu verstehen ist. Wie würden Sie Blockchain erklären und was steckt hinter »Liquid Democracy«?
Friesike: Ganz simpel ausgedrückt ist Blockchain ein Datensatz, der kontinuierlich fortgeschrieben werden kann, quasi unveränderbar ist und dezentral gespeichert werden kann. Damit muss man, anders als bei zentral gespeicherten Daten, nicht einer einzelnen Instanz glauben, die »Wahrheit« ist verteilt im System belegbar. Vor fünf Jahren lag auf Liquid Democracy die Hoffnung, einen neuen Weg gefunden zu haben, komplexe Organisationen oder sogar ganze Regionen zu organisieren. Gemeinsam mit der Piratenpartei ist das Thema heute fast vollständig verschwunden.
Worin sehen Sie bei der Digitalisierung die größten Gefahren?
Friesike: Die größte Gefahr im Zuge der Digitalisierung ist ganz klar die Machtkonzentration auf zu wenige Marktteilnehmer und die damit verbundene Abhängigkeit der Kunden von ein paar Unternehmen. Wenn Sie heute im Netz ihre Produkte bewerben wollen, dann kommen Sie an Google und Facebook nicht vorbei. Beim Handel ist es Amazon, und man muss kein Volkswirt sein, um zu wissen, dass die Konzentration auf wenige Firmen nicht wünschenswert ist. Gleichzeitig werden Technologien komplexer und es damit immer schwerer, den »Großen« Konkurrenz zu machen. Microsoft hat gerade angekündigt, sich aus dem Smartphone-Geschäft zurück zu ziehen, weil sie gegen Apple und Google wenig ausrichten konnten.
Welchen Innovationen und Entwicklungen räumen Sie weniger Chancen ein als diesen derzeit prognostiziert werden?
Friesike: Ich weiß, dass diese Meinung für eine Menge Gegenwind sorgt und wir haben im Institut oft Debatten darüber, aber für mich sind diese »persönlichen Assistenten« erschreckend nutzlos. Apple hat Siri 2011 vorgestellt, das ist jetzt sechs Jahre her. Damals kamen diese Assistenten mit dem Versprechen, uns bei unserer Arbeit zu unterstützen. Die sind zwar im Laufe der Zeit besser geworden, aber befinden sich nach wie vor auf einem Niveau, das für meine Arbeit nutzlos ist. Siri kann nach wie vor keine E-Mail mit Anhang verfassen, kein Dokument ausfüllen, keine Rechnung stellen. Jedes Jahr setze ich mich hin und versuche zu verstehen, ob es da jetzt eine Funktion gibt, die mir wirklich Arbeit abnimmt und jedes Jahr ist das Ergebnis ernüchternd. Bekannte, die ein Amazon Alexa haben, nutzen das in erster Linie als Jukebox »Alexa spiel etwas von Tom Petty«. Das ist sicher nett, dass man dem Radio jetzt sagen kann, was man hören will, aber diese persönlichen Assistenten wurden uns mit einem anderen Versprechen angepriesen.
Bislang wenig Produktivitätsgewinn durch Digitalisierung
Welche Forschungsergebnisse zur Digitalisierung haben Sie persönlich am meisten überrascht?
Friesike: Das erste was mir da einfällt ist, wie wenig wir die Digitalisierung der letzten zehn Jahre in unserer Produktivität sehen. Wir haben durch die erste Welle der Digitalisierung eine Menge Produktivität gewonnen, also die Umwandlung der analogen Akte in digitale Dokumente. Aber was danach passiert ist, sehen wir in Produktivitätsstatistiken nicht. Denken wir wieder an Siri, wo ist das ein wirklicher Produktivitätsgewinn? Was die Frage aufwirft: Tun wir das Richtige, oder lässt sich hier durch Digitalisierung einfach wenig Produktivität gewinnen? Wir sind sehr gut darin, Routinetätigkeiten zu beschleunigen. Wenn wir uns übliche Bürojobs angucken, dann sind die meisten Tätigkeiten aber nicht Routine wie beispielsweise in der Produktion. Wir schicken immer noch lange E-Mails (und viel zu viele) und haben ständig Meetings. Die Digitalisierung erlaubt es uns nun, dass wir dafür nicht im Büro sitzen müssen, aber wirklich produktiver werden wir irgendwie nicht. Es scheint mir auch, dass die Produktivität zu wenig in der Anschaffung von digitalen Lösungen beachtet wird. Ich kenne Unternehmen, in denen die Kommunikation über Whatsapp funktioniert und alle Mitarbeiter Texte (auch lange) in ihre Smartphones tippen. Bei der Wahl dieses Tools kann Produktivität nicht der entscheidende Faktor gewesen sein. Wir warten halt nach wie vor auf diesen persönlichen Assistenten, der einfach mal eine Rechnung stellen kann, ohne dass wir uns wieder 20 Minuten mit der Software rumschlagen müssen.
Könnte man die Produktivität nicht vor allem dadurch steigern, dass digitale Prozesse besser miteinander gekoppelt werden, so dass Prozesse applikationsübergreifend automatisiert werden?
Friesike: Automatisierung ist mit Sicherheit ein großes Thema und Interoperabilität ist ja ein Problem, das für den PC so alt ist, wie der PC selbst. In der Produktion wurde viel Produktivität durch die Festlegung und Beschleunigung einzelner Arbeitsschritte gewonnen: Teile wurden reduziert, Montagezeiten verringert und so weiter. In der Wissensarbeit ist das jedoch viel schwieriger, da wir die meiste Zeit damit beschäftigt sind, etwas anderes zu tun. Wenn ich in der Produktion am Tag 150 Scheinwerfer an Fahrräder schraube, dann kann ich diese Tätigkeit im Laufe der Zeit beschleunigen. Fast alle Bürojobs sind jedoch damit beschäftigt, immer wieder anderen Tätigkeiten nachzugehen. Vorhin musste ich eine Rechnung schreiben, dann wollte jemand, dass ich ihm einen Lebenslauf in 400 Zeichen schicke, jemand anders wollte von mir ein Bild für eine Veröffentlichung und nun ein Interview. Vermutliche brauche ich von dem, was ich heute gemacht habe, nichts noch einmal genauso. Aber genau über diese Wiederverwendung würde man schneller werden. Wissensarbeit bedeutet für die meisten von uns, dass wir etwas Neues erschaffen und das ist, was Zeit kostet. Um produktiver zu werden, müssten wir besser in der Lage sein, Dinge wiederzuverwenden. In den meisten Fällen werden wir aber nach neuen Lösungen gefragt.