»Eine ´geratene` Antwort ist ein inakzeptables Risiko«
Welche Risiken und Chancen birgt KI im Vertragsmanagement? Marc-Björn Seidel und Jobst Eckardt sind Senior Berater beim ECM-Consulting-Unternehmen Zöller & Partner und legen ihre Ansichten dar. Außerdem geben sie Wissen aus ihrer Beraterpraxis preis.
Wie verändert KI die Vertragsmanagementsoftware beziehungsweise das Vertragscontrolling?
Marc-Björn Seidel: Der Einsatz von KI-Funktionen kann zum Beispiel bei der Erfassung (Eingangsverarbeitung) im Rahmen der Klassifizierung und Verschlagwortung unterstützen. Neben der Feststellung, ob es sich um einen Vertrag handelt, können Vertragsarten identifiziert werden. Auch bei der Extraktion von relevanten Vertragsdaten/-inhalten und Informationen für interne Zuordnung – zum Beispiel Geschäftseinheit, Mandant, Projekt – existieren mit KI-Mitteln neue Möglichkeiten gegenüber klassischen Ansätzen, die bisher schon bei (semi-)strukturierten Dokumenten zum Einsatz kamen. Dadurch können auch aus unstrukturierten Dokumenten mit Hilfe von Prompts beispielsweise Laufzeiten, Fristen, Zahlungsbedingungen, Geheimhaltungsklauseln oder Haftungsrisiken extrahiert oder Vertragszusammenfassungen erstellt und in die recherchierbare Attributfelder einer ECM-Lösung eingetragen werden. So identifizierte Informationen können auch für die Steuerung von konditionalen Workflows verwendet werden. Die KI-gestützte inhaltliche Suche kann, im Gegensatz zu einer Volltextsuche nach bestimmten Textpassagen, Verträge nach fachlichen Kriterien, auch in Kombination, finden. Ein weiterer Anwendungsfall kann die KI-unterstützte Vertragserstellung sein, bei der über Large Language Models (LLMs) Vertragsinhalte mit Standardformulierungen interaktiv erzeugt werden.
Sind KI-Ergebnisse, die sich auf Vertragsinhalte beziehen, wirklich zuverlässig oder empfiehlt es sich, Inhalte komplett persönlich zu prüfen?
Seidel: Der Markt entsprechender KI-Lösungen entwickelt sich momentan noch. Während wir im privaten Bereich bereits KI-Tools einsetzen, sind die Lösungen für die Integration in Business-Software, wie DMS-/ECM- oder dedizierte Vertragsmanagement-Lösungen derzeit eher noch in der Entwicklung. Im privaten Umfeld geht es häufig darum, eine Antwort zu erhalten, wohingegen im professionellen Bereich in der Regel die eine, richtige Antwort benötigt wird. Anfangs ist eine manuelle Kontrolle in jedem Fall obligatorisch. Mit zunehmender Qualität der Ergebnisse lässt sich die Stichprobengröße für manuelle Nachkontrollen verringern. Die Entscheidung bezüglich möglicher Dunkelverarbeitungen wird immer das mögliche Risiko, wie den Vertragswert oder rechtliche Konsequenzen, berücksichtigen.
Gibt es ansonsten Anwendungsfälle, um mit KI das Vertragsmanagement zu verbessern?
Jobst Eckardt: Im Gegensatz zu (semi-) strukturierten Dokumenten, gibt es bei Vertragsdokumenten keine standardisierte Struktur für die relevanten Informationen. Sie sind nicht immer an derselben Stelle, im gleichen Kontext oder einem bekannten Format niedergeschrieben. KI-Lösungen können hier zum Beispiel bei der Erfassung helfen und Prozesse für die Vertragsprüfung aufgrund analysierter Inhalte, zum Beispiel mit oder ohne Prüfung durch die Rechtsabteilung bei kritischen Vertragsinhalten, anstoßen.
Gibt es weitere Punkte, bei denen im Zusammenhang mit KI und Vertragsmanagement Vorsicht geboten ist?
Seidel: Wer Sprachmodelle wie ChatGPT schon einmal verwendet hat, stellt fest, dass auf die gleiche Frage unterschiedliche Antworten generiert werden. Ob die Ergebnisse zuverlässig sind, hängt zum einen sehr stark von den Prompts ab und zum anderen davon, ob ein Modell eingesetzt wird, das deterministisch (konfiguriert) ist oder nicht. »Kreative« Antworten, wie wir sie von ChatGPT kennen, würden im Businesskontext zu Unsicherheit führen. Bezogen auf eine Vertragsklausel ist eine »geratene« Antwort ein inakzeptables Risiko.
Welche Handlungsoptionen stehen bei der Auswahl einer Vertragsmanagementlösung zur Verfügung?
Seidel: Vertragsmanagement-Lösungen – manchmal auch unter dem englischen Titel und Akronym CLM – Contract Lifecycle Management – sind schon lange am Markt verfügbar. Neben »Stand-alone-Anwendungen« kann auch die Implementierung auf Basis des »Werkzeugkastens« einer modernen DMS-/ECM-Lösung in Erwägung gezogen werden. Die spezifischeren Vertragsmanagement-Anforderungen sollten dann möglichst bereits im Auswahlprozess der DMS-/ECM-Lösung berücksichtigt werden, denn nicht jedes Produkt bringt im Standard alle erforderlichen Funktionen, zum Beispiel für ein zyklisches Laufzeitmanagement oder die gewünschten Schnittstellen zu Anwendungen mit führenden Stammdaten mit. Während »Stand-alone-Produkte« teilweise auch Funktionen wie die inhaltliche Vertragserstellung – zum Beispiel mit Textbausteinen – umfassen, bietet die Implementierung im Rahmen einer ECM-Lösung die Möglichkeit die Zusammenhänge mit anderen Akten und Unterlagen abzubilden – zum Beispiel Kreditorenakte, Projektakte, Mandantenakte.
´Kreative` Antworten, wie wir sie von ChatGPT kennen, würden im Businesskontext zu Unsicherheit führen. Bezogen auf eine Vertragsklausel ist eine ´geratene` Antwort ein inakzeptables Risiko.
Welche Stolpersteine gibt es generell bei der Einführung von Vertragsmanagementlösungen?
Eckardt: Vertragsunterlagen werden heute in Unternehmen oft an unterschiedlichen Orten aufbewahrt. Verträge gibt es in analogen Akten, im Dateisystem, in ERP- oder CRM-Systemen oder anderen Fachanwendungen. Bei der Sollkonzeption muss zunächst definiert werden, welche Vertragsarten im Fokus sind und welche nicht. Zu den Herausforderungen zählt die Festlegung einheitlicher Regeln für die strukturierte Ablage und Verwaltung der betrachteten Vertragsarten. Neben der Auswahl geeigneter Lösungen spielen organisatorische Aufgaben – beispielsweise das Schaffen von Rahmenbedingungen, sowie das Erstellen oder Anpassen von Regeln – eine wesentliche Rolle.
Ab welchem Volumen oder ab welchen Parametern lohnt sich ihr Einsatz?
Seidel: Eine allgemeingültige Regel, ab wann sich eine Vertragsmanagementlösung lohnt, gibt es nicht. Risiken und Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit den Verträgen oder Vertragsvolumina sind sehr unterschiedlich. Neben den Mengen kann auch ausschlaggebend sein, welche anderen Unterlagen, die im Zusammenhang mit Verträgen stehen – zum Beispiel Kreditorenakten, Projektakten, Anlagenakten – bereits digital in einer DMS-/ECM-Lösung verwaltet werden.
Welche verschiedenen Architekturansätze gibt es bei Vertragsmanagementlösungen?
Seidel: Neben einem »Design-from-Scratch«-Ansatz bieten manche DMS-/ECM-Anbieter auch vorgefertigte (Template-) Lösungen an, die insbesondere dann wirtschaftlich sein können, wenn die eigenen Anforderungen vollständig von den Lösungsschablonen erfüllt werden und keine umfangreichen Anpassungen erforderlich sind.
Welche Auswirkungen hat der Einsatz von QES und FES auf die Digitalisierung von Geschäftsprozessen und das Vertragsmanagement?
Seidel: Analog unterzeichnete Dokumente und Verträge sind auch heute keine Seltenheit. Dabei wird ein mehrfacher Medienbruch erzeugt: Das oft schon digital entstandene Vertragsdokument muss ausgedruckt, unterschrieben und wieder eingescannt werden. Durch das elektronische Signieren können Medienbrüche vermieden werden. Häufig wird vorschnell die Schlussfolgerung gezogen, dass überall, wo bisher Namenszüge standen, zukünftig eine fortgeschrittene (FES) oder sogar qualifizierte elektronische Signatur (QES) erfolgen muss. Eine QES muss nur dann zwingend eingesetzt werden, wenn regulatorisch die Schriftform gefordert wird und überdies die QES als Ersatz für die eigenhändige Unterschrift zugelassen ist. Da die Lösungskomplexität, der Implementierungs- aber auch der Betriebsaufwand beim Einsatz von FES und QES steigen, sollte im Projekt individuell ermittelt werden, welche Signaturvariante(n) zum Einsatz kommen sollen beziehungsweise müssen.
Wie einfach ist die Integration von QES und FES in Vertragsmanagementsoftware und andere Business-Software für die Anwenderunternehmen?
Eckardt: Signaturanbieter von QES oder FES bieten oft entsprechende APIs für die Übergabe von Dokumenten aus anderen Anwendungen an. Von einigen DMS-, ECM- oder Vertragsmanagement-Anbietern gibt es bereits fertige Lösungsmodule. In der Regel kommt heute PDF als Containerformat für die signierten Dokumente zum Einsatz, während die Entwürfe häufig als Office-Dokumente vorliegen. Daher ist es wichtig, den gesamten Prozess aus Anwendersicht zu betrachten. Entscheidend bezüglich der Integration in die eigenen Geschäftsprozesse ist die Ergonomie und Sicherstellung der Rechtssicherheit des gesamten Signatur-Verfahrens inklusive der anschließenden ordnungsgemäßen Aufbewahrung der elektronischen Unterlagen.
Welche Bedeutung haben digitales Vertragsmanagement und die Einführung von elektronischen Signaturen aus ihrer Sicht für Unternehmen in der Praxis?
Seidel: Ein zentrales Vertragsmanagement schafft einen Überblick über die aktiven Verträge, sowie die damit verbundenen Verpflichtungen, Fristen/Termine und Risiken. Wenn die Daten strukturiert erfasst sind, lassen sich manuelle Aufwände deutlich reduzieren.
Elektronische Signaturverfahren eignen sich bei der Verarbeitung möglichst vieler gleichartiger Vertragsunterlagen, wie Vertraulichkeitsvereinbarungen (NDAs). Auch für einzelne Dokumente können elektronische Signaturen dazu beitragen überflüssige Medienbrüche zu vermeiden, wobei projektspezifisch zu prüfen ist, welche Signaturform am besten geeignet ist.
Kommen Identity Wallets verstärkt zum Einsatz und erleichtern sie die Nutzung?
Eckardt: Da viele Identity Wallets noch in einer Testphase sind, sehen wir bisher noch keinen direkten Einsatz im Vertragsmanagement, sondern eher bei den Anbietern der Signaturplattformen.
Wie steht es um die Verbreitung und den Nutzen von elektronischen Siegeln im Unternehmens- und Verwaltungsbereich?
Seidel: Im Gegensatz zu den persönlichen Signaturen (QES), die einer natürlichen Person zugeordnet sind, repräsentiert das elektronische Siegel zum Beispiel eine juristische Person oder Organisation des öffentlichen Sektors. Die Verbreitung in den öffentlichen Verwaltungen oder im Rechts- und Justizwesen ist derzeit noch moderat. In vielen Einführungsprojekten gehören elektronische Siegel nicht zu den Pilotprojekten. Es stehen eher die Umsetzung von diversen elektronischen Akten und Workflows, Integrationen mit Fachanwendungen und erforderliche organisatorische Veränderungen im Fokus.